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Kunst

Gros et Delettrez - JESSE A. FERNÁNDEZ (1925–1986) - Rückblickende Versteigerung des Ateliernachlasses anlässlich des hundertsten Geburtstags

2025-10-03    
   

Anlässlich von Paris Photo 2025 (13.–16. November, Grand Palais) präsentiert die Maison Gros & Delettrez in Paris ein aussergewöhnliches Ensemble von Werken von Jesse A. Fernández (1925–1986) — Fotograf, Zeichner und Assemblage-Künstler aus Kuba, dessen kosmopolitischer, unverwechselbarer Blick die Bildgeschichte des 20. Jahrhunderts geprägt hat.

Die Versteigerung fällt zudem in das hundertste Geburtsjahr des Künstlers und bietet eine besondere Gelegenheit, sein Werk in einem symbolischen Moment neu zu entdecken.
Die Auktion, bestehend aus über 250 Losen — Fotografien, Zeichnungen und «Curiosity Boxes» — findet am Samstag, 15. November, in den künftigen Räumen des Hauses in der rue de Bérite im Herzen des 6. Arrondissements statt.

Bereits Ende der 1950er-Jahre machte sich Fernández mit einer Serie historischer Aufnahmen einen Namen: seinen Porträts von Fidel Castro in den ersten Tagen der Kubanischen Revolution. Entstanden für Lunes de Revolución auf Anfrage seines Freundes, des Schriftstellers Guillermo Cabrera Infante, zeugen diese Bilder von seltener Schärfe: weder Propaganda noch blosse Reportage, sondern der Autorinnenblick, der den Menschen hinter der politischen Ikone erfasst.

Es folgte ein bedeutendes fotografisches Œuvre mit Porträts einiger der einflussreichsten Persönlichkeiten seiner Zeit: Francis Bacon, Salvador Dalí, Pablo Picasso, Hans Hartung, Jorge Luis Borges, Gabriel García Márquez, ebenso Protagonistinnen aus Musik und Bühne wie Miles Davis, Billie Holiday, Dizzy Gillespie und Marlene Dietrich; nicht zuletzt Ernest Hemingway in Havanna (1957). Seine Bilder erschienen in LifeTimeParis Match und The New York Times — ein Beleg seiner internationalen Reichweite.

Ein einzigartiger, kosmopolitischer Blick

Jesse Antonio Fernández wurde 1925 in Havanna geboren. Er verkörpert die Figur des kosmopolitischen Künstlers des 20. Jahrhunderts, unterwegs zwischen Kontinenten und Sprachen. Mehrfach ins Exil gegangen — zunächst nach Spanien, um der Diktatur Machados zu entkommen, dann zurück nach Kuba vor dem Hintergrund des Spanischen Bürgerkriegs —wächst er zwischen Kulturen, politischen Brüchen und geographischen Verschiebungen auf. 1936 kehrt die Familie auf dem letzten Schiff, das Santander verlässt, nach Kuba zurück — ein prägendes Erlebnis für seine Exil-Erinnerung.

Ausgebildet an der Kunstakademie San Alejandro in Havanna, zieht Fernández Ende der 1940er-Jahre nach New York und studiert bei George Grosz. Dort begegnet er Marcel Duchamp, Friedrich Kiesler, Willem de Kooning, Jackson Pollock und Robert Motherwell. 1948 führt ihn die Bekanntschaft mit Wifredo Lam in den Kreis europäischer Künstler*innen in New York; er besucht den Painters’ Club in der 8th Street u. a. mit Milton Resnick.

1957 arbeitet er als Fotograf am Film Nazarín von Luis Buñuel in Mexiko mit. 1958 wird er Art Director der Zeitschrift Visión (New York) und setzt gleichzeitig seine Tätigkeit als Fotoreporter fort; seine Arbeiten werden u. a. über die Agentur Gamma verbreitet. Er erhält CINTAS-Stipendien (1967–68; 1975–76) — eine bedeutende Anerkennung innerhalb der kubanischen Diaspora.

Seine Entdeckung der Fotografie erfolgt jedoch in Kolumbien (1952–1954), beeinflusst von Henri Cartier-Bresson und Walker Evans. «Die Fotografie wurde für mich zu einer Form des Kontakts mit der Wirklichkeit», sagt er später.

Porträts und Wahrheit

Das fotografische Werk von Jesse A. Fernández zeichnet sich durch einen intimen Ansatz und die Fähigkeit aus, das Wesen seiner Gegenüber zu erfassen. Er verzichtete auf Inszenierungen und fotografierte in natürlichen Umgebungen — mit unverstellter menschlicher Nähe.
1959 porträtiert er Fidel Castro unmittelbar nach der Revolution. Diese ebenso seltene wie historische Serie zeigt den jungen Anführer in seinen ersten Tagen an der Macht. Zwischen Reportage und Autor*innenporträt zeugen die Bilder von einem engagierten, nie gefälligen Blick. Auf Bitte von Guillermo Cabrera Infante dokumentiert er 1959 die ersten Monate der Revolution für Revolución und Lunes de Revolución.

«Die Fotografie wurde zu einer Form des Kontakts mit der Realität. Ich wusste absolut nichts, nicht einmal, was eine Blende ist. Aber ich habe mich mit Stapeln von Büchern eingeschlossen und gelernt.»
— Jesse A. Fernández

Zu seinen emblematischen Sujets zählen Picasso, Francis Bacon, Salvador Dalí, Hans Hartung, Jorge Luis Borges, Gabriel García Márquez. Seine Porträts sind weit mehr als Dokumente: Sie offenbaren Nähe und Vertrauen und verleihen dem Werk besondere Intensität.

Neben Ateliers von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen fotografiert Fernández auch die Jazz- und Bühnenszene — Miles Davis, Billie Holiday, Dizzy Gillespie, Marlene Dietrich — sowie Ernest Hemingway in Havanna (1957).

Eine universale Bildsprache

Fernández arbeitete überwiegend in Schwarzweiss, bevorzugte enge Ausschnitte, natürliches Licht und eine reduzierte Ästhetik, die er selbst als «puristisch» bezeichnete. Natürliches Licht, enge Kadrierung, Leica über der Schulter — eine Ökonomie der Mittel im Dienst realer Präsenz.

Neben Porträts entstehen Stadtreportagen, Architekturblicke auf Havanna und kontemplative Serien, insbesondere zu den Mumien der Kapuzinerkatakomben in Palermo, in denen formale Strenge zur Reflexion über Zeit und Erinnerung wird. Der Zyklus erscheint bei Éditions du Chêne mit einer Einleitung von Dominique Fernandez (Paris, 1980).

Zeichnungen und «Curiosity Boxes»

Parallel zur Fotografie entwickelt Jesse A. Fernández ein Universum aus Zeichnungen und Box-Assemblagen. Diese «boîtes curieuses» funktionieren wie Miniatur-Kabinettschränke, in denen sich persönliche Reminiszenzen, afro-kubanische Kultur, Surrealismus und universelle Mythologien begegnen. Sie verlängern seine fotografische Recherche und befragen Erinnerung, Identität und Vergänglichkeit.

Zwischen New York, ParisuUnd Havanna

Parallel zur fotografischen Laufbahn lehrt Fernández an der School of Visual Arts (New York), malt weiter und schafft seine «boîtes».
Ende der 1960er-Jahre pendelt er zwischen New York und Puerto Rico, schreibt als Kunstkritiker für den San Juan Star. In den 1970er-Jahren hält er sich regelmässig in Toledo und Madrid auf, wo er insbesondere seine «boîtes» zeigt. Ab 1977 lebt er in Frankreich, porträtiert u. a. Joan Mitchell, Henry Moore und Francis Bacon und publiziert regelmässig in bedeutenden Medien. Er stirbt 1986 in Neuilly-sur-Seine.

Grosse Retrospektiven widmen sich seinem Werk: 2003 im Museo Reina Sofía (Madrid), 2012 in der Maison de l’Amérique latine (Paris, Tours et détours: De La Havane à Paris, mit Filigranes-Publikation) und 2016 im Nelson-Atkins Museum of Art (Kansas City, Cuba Bound). Heute befinden sich seine Arbeiten u. a. im MoMA, Museo Reina Sofía, Centre Pompidou, Nelson-Atkins Museum und Museo del Barrio (New York).

Die Auktion

Diese Versteigerung ist eine seltene Gelegenheit, einen prägenden Fotografen neu zu entdecken, dessen kritische und künstlerische Bedeutung heute umfassend neu bewertet wird. Parallel zu Paris Photo dürfte sie das Interesse privater Sammler*innen wie auch von Institutionen wecken, die ein noch wenig erschlossenes Korpus erwerben oder ergänzen möchten. Mit über 250 Losen bietet sie einen seltenen Überblick über seine Laufbahn  ideal für gezielte Ergänzungen oder den Aufbau von Sammlungen.
Mit dem hundertsten Geburtstag von Jesse A. Fernández ist die Auktion nicht nur ein Marktereignis, sondern auch ein entscheidender Schritt in der Wiederentdeckung eines kosmopolitischen, zentralen Künstlers des 20. Jahrhunderts.

Chronologie (Auswahl)

1925  Geburt in Havanna
19321936  Familienexil in Asturien, Rückkehr nach Kuba
1940er  Akademie San Alejandro (Havanna), danach New York (Malerei bei George Grosz; Begegnungen mit Duchamp, de Kooning, Pollock ...)
19521954  Medellín (Kolumbien): Entdeckung und intensive Praxis der Fotografie Ende 1950er  Fotoreporter, Art Direction, Reisen in Lateinamerika
1959  Castro, Revolución / Lunes de Revolución
1970er  Zwischen New York und Paris; Künstlerporträts
1977  Übersiedlung nach Frankreich
Anfang 1980er  Mumien von Palermo
1986  Tod in Neuilly-sur-Seine
2000er2010er  Museumsausstellungen

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Bibliografie & Ausstellungen

Jesse A. Fernández, Kat. Museo Reina Sofía, Madrid, 2003; Tours et détours. De La Havane à Paris, Maison de l’Amérique latine / Filigranes, 2012; Les Momies de Palerme, Éditions du Chêne, Einleitung von Dominique Fernandez (frühe 1980er); Retratos, Porträts von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen (frühe 1980er).

Stationen: 2003 — Museo Reina Sofía, Madrid; 2012 — Maison de l’Amérique latine, Paris (Tours et détours, Filigranes); 2016 — Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City (Cuba Bound, in drei Häusern).

Praktische Informationen

Auktion: Samstag, 15. November 2025, 14.00 Uhr
Öffentliche Vorbesichtigung: 12.14. November 2025  Gros & Delettrez, 2 rue de Bérite (75006 Paris)
Katalog: ab Anfang Oktober  Pressekopien auf Anfrage (Post / Kurier) Online-Plattformen: Drouot Live, Interencheres, Invaluable

Gros & Delettrez

Gros & Delettrez ist ein unabhängiges Auktionshaus, das 1984 von Henri Gros und Georges Delettrez gegründet wurde – Erben einer langen Tradition von Expertise im Drouot-Viertel.
Bekannt für seine Seriosität, Dynamik und die Vielseitigkeit seiner Fachgebiete, begleitet das Haus Sammlerinnen, Sammler und Institutionen in Frankreich und international.

Heute entwickelt Gros & Delettrez seine Tätigkeit zwischen Drouot und den neuen Räumlichkeiten in der Rue de Bérite (Paris 6) weiter und stärkt damit seine Präsenz auf der Pariser Kunstszene.

Copyright : Succession Jesse A. Fernández / Gros & Delettrez.